Nachfolgend haben wir einen sehr interessanten Bericht in der Sonntagszeitung gefunden.
Wer sich mit HIV angesteckt hat, dem bleiben zwei Tage, um die Infektion zu bekämpfen - die benötigten Medikamente bleiben eine Notmassnahme
Von Susanne Donner
Am Morgen erwacht Alex mit einem unguten Gefühl. Verschwommene Erinnerungen an die letzte Nacht, an eine schnelle Nummer in der Disco. Anonym, aus purer Lust. Mit Kondom oder ohne? Die Details des Akts liegen im Rausch einer durchfeierten Nacht. Es bleiben beängstigende Fragen: Was, wenn der Partner HIV-positiv war? Eigentlich, denkt Alex, ist Aids eine Krankheit älterer homosexueller Männer mit härteren Sexpraktiken. Das Bild der Immunschwächekrankheit ist weit weg und in der Angst doch ganz nah.
Noch am selben Tag geht Alex in die Berliner Charité. Gängige Aidsmedikamente können eine Ansteckung mit dem HI-Virus verhindern, wenn sie binnen zweier Tage eingenommen werden, nachdem der Erreger in den Körper gelangt ist. Post-Expositions-Prophylaxe - kurz: PEP - nennt sich diese letzte Rettung vor einer Infektion. Die Ambulanz der Berliner Klinik ist überfüllt. Stunden verrinnen. Alex hadert mit sich und fragt sich, ob er «auf Nummer sicher hätte gehen sollen». Er beruhigt sich damit, dass «es eine Möglichkeit gibt, den Ausrutscher auszumerzen».
Pro Wochenende bis zu acht Patienten allein in Zürich
Alex ist Akademiker, Anfang 30, lebt und arbeitet in Berlin. Für ihn ist es die zweite PEP-Behandlung. Beim ersten Mal war ein Kondom gerissen. Er weiss, was ihn erwartet. Drei Tabletten Kaletra und Combivir am Morgen, drei am Abend. 30 Tage lang. In den Pillen stecken vier Wirkstoffe, die - jeder für sich - das HI-Virus an der Vermehrung hindern.
Alex hatte die Arzneien beim ersten Mal gut vertragen. Dieses Mal nicht: «Ich hatte die ganze Zeit Durchfall, keinen Appetit und fühlte mich schlecht. Ich habe die Tage gezählt. Da merkte ich, was ich mir angetan hatte für einen Moment der Lust», beschreibt er. Es sind die typischen Nebenwirkungen, auf die Ärzte stets hinweisen. «Diese Tabletten sind nicht wie Aspirin», warnt Huldrych Günthard, Infektionsforscher am Universitätsspital Zürich. «Die Beschwerden sind teilweise extrem. Einmal habe ich ein akutes Leberversagen erlebt.» Bei den Ärzten erhärtet sich der Verdacht, dass die Medikamente von Gesunden schlechter vertragen werden als von HIV-Positiven. Warum, wissen sie nicht.
Gedacht ist die Post-Expositions-Prophylaxe für Krankenschwestern und Ärzte, die sich mit einer blutigen Nadel verletzen. Dagegen wird die PEP nach dem Sex von den Fachgesellschaften nur bei einem erhöhten Risiko - etwa einem Kontakt mit einer Prostituierten - empfohlen.
Die Realität sieht anders aus. «Es kommen auch Leute, die One-Night-Stands hatten; andere, die so betrunken waren, dass sie sich nicht mehr genau erinnerten, und wieder andere, die anonymen Sex hatten», erzählt Günthard und fügt hinzu: «Es ist eine schwierige Risikoabschätzung, wie man in solchen Fällen vorgeht. Wenn wir den Eindruck haben, dass eine Gefahr besteht, verordnen wir die PEP.» Nach einem Wochenende verlangen allein in der Stadt Zürich fünf bis acht Menschen nach den schützenden Tabletten, schätzt der Experte. In der gesamten Schweiz gehe die Zahl der jährlichen PEP-Verschreibungen in die Hunderte, wenn nicht Tausende, glaubt Günthard: «Die PEP nehmen ganz klar zu.»
Oft kann eine Infektion durch die Pillenkur zwar verhindert werden, aber der Schutz sinkt drastisch, wenn die Tabletten zu spät oder nicht konsequent eingenommen werden. Und ohnedies kann die Wirksamkeit der PEP nicht genau beziffert werden. Michelle Roland von der University of California in San Francisco berichtet über 7 von 702 PEP-Behandelten, die drei Monate später trotzdem HIV-positiv waren. Teils lasse sich das auf ein Versagen der Medikamente zurückführen, teils aber auch auf erneuten ungeschützten Sex.
Safer-Sex-Kampagnen halten Aids auch in Europa nicht auf
Die PEP hat auch in Deutschland einen nennenswerten Stellenwert in der Prävention erlangt, fanden Phil Langer, Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München, und Jochen Drewes, Mitarbeiter am Arbeitsbereich Prävention und Gesundheitsforschung an der Freien Universität Berlin, heraus. Allein von 27 HIV-Schwerpunktpraxen wurde die Pillenkur 234-mal verschrieben. Nur ein Drittel ging auf Arbeitsunfälle zurück. Weit mehr als die Hälfte der Personen wandte sich nach dem Sex mit der Bitte um antivirale Medikamente an den Arzt.
Gefördert wird diese Entwicklung dadurch, dass Aufklärung und Kampagnen für Safer Sex die Aidsepidemie nicht aufhalten konnten. Nicht in Afrika und nicht in Europa. Vor diesem Hintergrund empfahl die Weltgesundheitsorganisation 2007 erstmals die PEP unter anderem bei Drogenabhängigen und nach dem Sex, wenn die Gefahr einer HIV-Infektion besteht. Auch sonst schliesst die WHO eine Ausweitung der medizinischen Prophylaxe nicht aus.
Neben der PEP zählt dazu die Prä-Expositions-Prophylaxe - kurz: PREP -, die derzeit in klinischen Studien untersucht wird. Vorbeugend werden Aidsmedikamente geschluckt. Hochrisikogruppen wie Prostituierte, Drogenkonsumenten und Homosexuelle könnten so präventiv vor einer Ansteckung geschützt werden.
Prophylaxestudien in Ländern mit hoher Ansteckungsrate
In Thailand wird diese vorsorgliche Behandlung mit dem Anti-Aids-Wirkstoff Tenofovir an 2400 HIV-negativen Drogenabhängigen getestet, in Botswana in Kombination mit einem zweiten Wirkstoff an 1200 gesunden Heterosexuellen. In Ghana, Kenya, Uganda, Peru, Ecuador und Südafrika wurden vergleichbare Studien angestossen. Grossteils finanziert mit amerikanischen Geldern. In den USA wird Tenofovir an 400 homosexuellen Männern getestet.
Warum die Prophylaxe in Ländern erprobt wird, die nicht einmal ausreichend über Aidsmedikamente verfügen, erklärt HIV-Experte Osamah Hamouda vom Robert-Koch-Institut in Berlin: «Die Infektionsraten sind hierzulande so niedrig, dass man sehr viele Menschen und sehr lange Studien bräuchte, um die Wirksamkeit zu belegen. Studien sind in jenen Ländern einfacher durchzuführen, in denen die Ansteckungsrate höher ist.» Unter thailändischen Drogenkonsumenten liegt die Infektionsrate bei 42 Prozent, in der Altersgruppe der 15- bis 49-jährigen Botswaner bei 31 Prozent.
Soziologen und Mathematiker haben ausgerechnet, wie die PREP in Afrika und Indien die Aidsepidemie aufhalten könnte. Drei von vier Menschen sollten die Tabletten täglich schlucken, heisst es im Fachblatt «Plos One». In Afrika? Eine Theorie, die fern ab der Realität liegt. In Entwicklungs- und Schwellenländern bekommt nur ein Bruchteil der HIV-Patienten lebensrettende Medizin. Offene Worte von Hamouda: «Die PREP wird höchstwahrscheinlich den reichen Nationen zugutekommen. Für ressourcenarme Länder ist das Kondom nach wie vor der Goldstandard. Es ist billiger, sicherer und einfacher anzuwenden.» Tatsächlich sehen einige Mediziner hierzulande in der PREP eine Chance. «Wir müssen viele Wege gehen, um Aids einzudämmen», stellt Manuel Battegay, Infektionsforscher am Universitätsspital Basel, fest. Er räumt aber ein: «Die Gefahr liegt darin, dass die Menschen dann noch nachlässiger werden.»
Ist PREP einfach Sex mit geringem Risiko? Von wegen!
Die PREP könnte dem ungeschützten Sex mit wechselnden Partnern Tür und Tor öffnen. Nur aus Lust bei vermeintlich geringem Risiko. Da die Medikamente keinen absoluten Schutz bieten, würden sich HIV und andere Geschlechtskrankheiten weiter ausbreiten.
Doch verleitet nicht schon die PEP zu mehr Leichtsinn? Eine Handvoll Studien sagen Nein - und Alex: «Die PEP hat mein Handeln nicht direkt beeinflusst. Sie ist nur der letzte Rettungsanker gewesen», beteuert er. «Wer einmal ungeschützten Geschlechtsverkehr hat, tut es öfter. Mit und ohne PEP.» Die Lust am Nervenkitzel war bei ihm stärker als jeglicher Verstand.
Heute ist Alex HIV-positiv, obwohl beide PEP-Therapien erfolgreich verliefen. «Ich kann die Infektion auf kein konkretes Ereignis zurückführen. Möglichkeiten gibt es viele», meint er. Die Diagnose war ein Schock. Verändert hat sich sein abenteuerliches Sexualleben allerdings nicht.
Quelle: Sonntagszeitung
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