Das Cabaret-Sterben und die Aufwertungspolitik der Stadt haben die Zürcher Langstrasse in den letzten vier Jahren völlig verändert. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
Kein Zürcher Asphaltstreifen verändert sich so schnell wie die Langstrasse. In den letzten 40 Jahren war sie Arbeiterboulevard, Milieuzulieferer und Drogenmeile. Derzeit entpuppt sie sich als «hippste Strasse der Stadt», wie es im Internet heisst. Die Verwandlung passierte rasant. Allein in den letzten vier Jahren sind zwischen Eisenbahnbrücke und Helvetiaplatz (und auf den direkt angrenzenden Nebenstrassen) 18 neue Betriebe entstanden, die junge Kundschaft anziehen; Kundschaft, die nicht wegen harter Drogen oder käuflichem Sex an die Langstrasse fährt. Dazu kommen Detailhändler und der Happy Beck, die mit Alkohol und Brötchen das Nachtleben am Laufen halten.
Jüngstes Beispiel für eine typische Langstrassen-Umnutzung ist die St.-Pauli-Bar, wo am letzten Wochenende das Milieu aus- und das Partypublikum einzog. «20 Minuten» schrieb belustigt, dass sich am Eröffnungsabend noch einige ältere Freier und Stripperinnen in die Bar verirrt hätten. Das Partyvolk umgibt sich zwar gerne mit etwas Milieu-Verruchtheit. Feiern will man aber unter sich.
Auch das Restaurant Gotthard wurde kürzlich wiedereröffnet. Niko Blazevic und Damir Muslic, die früher im Odeon arbeiteten, haben die traditionelle Holz-Einrichtung beibehalten. Mit ihren grossen Schnitzeln und der internationalen Küche wollen sie aber vor allem ein «jüngeres, unkompliziertes Publikum» ansprechen. Dieses «Spunten-Light»-Konzept ist im Kreis 4 schon mehrfach erfolgreich erprobt worden.
Wo Neues entsteht, verschwindet Altes. Bisher haben an der Langstrasse vier Cabarets geschlossen, mehrere Kleiderläden, Beizen und Imbissstände. Die «Verszenung» ist so weit fortgeschritten, dass vife Köpfe bereits geführte Bar-Touren durch das Quartier anbieten. Was den einen Geld bringt, bereitet den anderen Kummer. Alteingesessene Quartierbewohner beklagen sich über «Agglo-Horden» wie im Niederdorf und steigende Mieten.
Goldene Zeiten der Kreis-4-Cabarets vorbei?
Zwei Faktoren haben diese Entwicklung vorangetrieben: Die Stadt arbeitete mit ihrem Projekt Langstrasse Plus gezielt auf eine «Aufwertung» des Quartiers hin. Sie setzte das Milieu unter Druck, bekämpfte die Drogenszene, kaufte «Problemliegenschaften» und unterstützte private Investoren. So sind etwa das Hotel Rothaus und die Bar Rosso entstanden. Die Aufwertungspolitik profitierte davon, dass sich das Sexgewerbe in den letzten Jahren vermehrt in Industriezonen ausserhalb der Stadt verschoben hat. Rolf Vieli, Leiter von Langstrasse Plus, vermutet, dass die goldenen Zeiten der Kreis-4-Cabarets vorbei sind. Von diesem Cabaret-Sterben profitieren wiederum Gastronomen, die die Räume samt schummriger Plüscheinrichtung dankbar übernehmen. Ausserdem lockt der Erfolg der Gastro-Pioniere Nachahmer ins Quartier.
Ein Ende ist nicht in Sicht. Die Erdgeschosse der Langstrasse werden sich weiter verändern. Kürzlich hat der Schmuckladen Ardor geschlossen. Kulturschaffende und die Stadt bemühen sich seit längerem um eine Umnutzung des Sexkinos Roland. Das Perla-Mode-Haus wird bald durch einen Neubau ersetzt. Was im Erdgeschoss geschieht, ist noch offen. Ein Cabaret wird aber definitiv keines einziehen.
Noch gibt es die alte Langstrasse
Droht der Langstrasse nach dem Milieu-Elend nun die In-Bar-Monotonie? Im Interesse des Quartiers liege dies nicht, sagt Vieli. «Wir wollen keine Monokultur, sondern ein durchmischtes Quartier. Nur Gewalt akzeptieren wir nicht.» Und tatsächlich gibt es sie noch, die alte Langstrasse. Vor allem an Wochentagen dominiert der fast schon klischierte Mix aus älteren Freiern, jungen Künstlern und Drogensüchtigen. Und zwischen den neuen Bars verbleiben zahlreiche alteingesessene Läden, Cabarets und Restaurants. Ihre Besitzer geben sich alle wortkarg und gleichmütig: «Manches ist besser geworden, manches schlechter», fasst der Betreiber der Olé- Olé-Bar die Stimmung zusammen.
Quelle: Tagesanzeiger.ch
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